Synodalität heute: Ökumenische und historische Lernchancen

Die Reihe „Synodalität bewegt – weltweit und in der Schweiz“ geht mit einem Beitrag von Eva-Maria Faber weiter. Sie stellt einen Artikel über die Chancen, die Synodalität bietet, zur Verfügung.

Dieser Beitrag ist zuerst in “Stimmen der Zeit”, Heft Nr. 148 (2023) Seiten 669-676, erschienen. Wir bedanken uns beim Herder-Verlag für die Erlaubnis zur Publikation.

Die ersten offiziellen Dokumente des weltweiten synodalen Prozesses (2021–2024)[1] benannten zwar den «Dialog unter Christen» als eines der Themenfelder, deren Behandlung der Förderung des synodalen Stils und synodaler Strukturen in der römisch-katholischen Kirche dienen soll. Gefragt wurde jedoch nur danach, welche Beziehungen mit den Schwestern und Brüdern der anderen christlichen Konfessionen unterhalten werden. Die Dokumente ließen nicht erkennen, dass die römisch-katholische Kirche in Sachen Synodalität von anderen Kirchen lernen könnte oder dass Synodalität sogar grundsätzlich auf die Verbundenheit mit anderen Kirchen verweist. Umso bemerkenswerter ist die Wende zur Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kirchen im Instrumentum laboris vom Juni 2023 für die Synodenversammlung im Herbst. Nr. 24 spricht noch eher allgemein von den Wegen des «gegenseitigen Kennenlernens, des Teilens und der gemeinsamen Lebensgestaltung». Die Arbeitsblätter lenken dann aber den Blick mehrfach auf die synodale Erfahrung anderer Kirchen, von denen die römisch-katholische Kirche lernen könne (B 1.4; B 3.1; B 3.2; B 3.3; B 3.4). Eine solche Erwartung bezieht sich sogar auf das Thema der Ämter (B 2.2).

In dieser Lernbereitschaft erhält endlich das gewundene Eingeständnis der Enzyklika Ut unum sint von 1995, dass in anderen Kirchen «gewisse Aspekte des christlichen Geheimnisses bisweilen sogar wirkungsvoller zutage treten», konkrete Anschaulichkeit[2]. Tatsächlich formuliert das Instrumentum laboris die Anerkennung:

«Der ökumenische Weg ist ein Austausch von Gaben, und eine der Gaben, die Katholiken von anderen Christen empfangen können, ist eben deren synodale Erfahrung (vgl. EG [Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium] 246). Die Wiederentdeckung der Synodalität als konstitutive Dimension der Kirche ist Frucht des ökumenischen Dialogs, vor allem mit den Orthodoxen» (B 1.4 b).

Dass die römisch-katholische Kirche eine konstitutive Dimension durch andere Kirchen wiederzuentdecken hat, widerlegt die emphatischen Selbstaussagen über die in der eigenen Kirche anzutreffende «Fülle»[3]. Umso mehr lässt sich erwartungsvoll auf die beabsichtigten Lernprozesse ausblicken, die z.B. Arbeitsblatt B 3.3 (Frage 9) initiiert: «Was können wir aus den Erfahrungen anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften in Bezug auf das Funktionieren von Strukturen und Institutionen im synodalen Stil lernen?».

Außer der synodalen Praxis anderer Kirchen in der Gegenwart bietet auch ihre bzw. die gemeinsame Geschichte Lernchancen für Synodalität. Im Jahr 2023, 500 Jahre nach der ersten Zürcher Disputation 1523, lohnt sich ein Rückblick auf die Schweizer Disputationen im Ursprung der helvetischen Reformationskirchen.

Die Schweizer Disputationen als Geburtsstunde reformierter synodaler Praxis
Nachdem Huldrych Zwingli, seit 1519 Leutpriester am Großmünster in Zürich, begonnen hatte, in seiner Predigt und in seinem Wirken reformatorische Positionen zu vertreten, regte sich ihm gegenüber Widerstand. Um die schwelenden Auseinandersetzungen zu bearbeiten, berief der Zürcher Rat 1523 einen öffentlichen Anlass ein, damit die Streitpunkte beraten werden könnten. Diese erste, später von Zwingli so benannte Disputation wurde Vorbild weiterer Disputationen in Zürich selbst, aber auch an anderen Schweizer Orten wie Ilanz oder Bern.

Anders als es die akademisch bekannte Disputationskultur vorsah, fanden diese Disputationen, die von der politischen Obrigkeit einberufen wurden, öffentlich statt. Die kirchlichen Amtsträger sollten ihre Auseinandersetzungen vor dem Forum der örtlichen Kirche austragen. Prinzipiell sollten «alle» Kritik äußern und Rechenschaft fordern können[4].

Im Selbstverständnis der reformierten Kirchen bilden diese frühen Disputationen eine Wurzel für ihre spätere synodale Praxis. Der Kirchenhistoriker Fritz Büsser (1923–2012) bezeichnet die reformierte Institution der Synode als «unmittelbare Folge der 1. Zürcher Rats-Disputation». Die Zürcher Disputationen ebenso wie die Einrichtung der Synode stünden im großen Zusammenhang der längeren synodalen Gepflogenheiten seit der Alten Kirche. Vom Anspruch der Disputation von 1523 her sei «sowohl die 2. Zürcher Disputation wie die 1528 erstmals, seit 1533 dann regelmäßig zweimal jährlich durchgeführte Zürcher Synode nichts anderes als eine auf das Gebiet des Staates Zürich bezogene Anwendung des synodalen Prinzips»[5].

Der Reformationshistoriker Peter Opitz (* 1957) schreibt den Disputationen eine prinzipiell ekklesiologische Relevanz zu:

«Die genannten Disputationen waren Veranstaltungen, an denen grundlegend Zwinglis später als ‹reformiert› bezeichnetes Verständnis von christlicher Kirche zur Debatte stand und an denen dieses gleichzeitig zumindest im Ansatz praktiziert und eingeübt werden sollte»[6].

So hängen die Disputationen des 16. Jahrhunderts und die heutige synodale Praxis der reformierten Kirchen innerlich zusammen. Schon dies zeigt an, dass für das ökumenische Lernen nicht nur der Blick in die heutige synodale Praxis der reformierten Kirchen lohnt, sondern auch die historische Vergewisserung über die Disputationen des 16. Jahrhunderts.

Synodale Strukturen im Dissens
Wer nun eine Verbindung zwischen Disputation und Synodalität ziehen möchte, stößt bei den Begriffen allerdings auf die Spannung zwischen den Vorsilben. Das «syn» in Synode zeigt an, dass deren Teilnehmende zusammenkommen, um miteinander zu beraten und möglichst konsensual Entscheidungen zu treffen. Demgegenüber zeigt die Vorsilbe «dis» in Disputation an, dass deren Teilnehmende aneinandergeraten und sich auseinandersetzen müssen – mit der Gefahr, dass sie im Dissens auseinandergehen. Passen «syn» und «dis» zusammen? Die Herausforderung lässt sich im Blick auf die bestehenden und zugleich umstrittenen Strukturen im 16. und im 21. Jahrhundert noch zuspitzen.

Den Disputationen im 16. Jahrhundert fehlte sogar die Einigkeit über die Modalitäten des Zusammenkommens und über die Art des Vorgehens. Für die erste Zürcher Disputation lagen unterschiedliche Vorschläge vor, in welchem Kreis strittige Fragen zu beraten wären[7]. Die Regeln der Disputation wurden nicht gemeinsam festgesetzt[8]. Die Thesen Huldrych Zwinglis wurden erst im letzten Moment bekannt. In seiner Studie zu Zwinglis Disputationen fragt Bernd Moeller, «ob nicht von seiner [Zwinglis] Seite die Überraschung bewusst angestrebt worden ist: Wäre die bischöfliche Delegation gekommen, wenn sie die Thesen schon zu Hause und nicht erst unterwegs (anscheinend in Winterthur) erhalten hätte?»[9] Der Reformationshistoriker Moeller sieht deswegen die Konstanzer Delegation in eine «Falle» geraten[10].

Mitzubedenken ist, wie es zu dieser konfliktbehafteten Ausgangslage kam. Der Zürcher Rat begründete die Einberufung der Disputation «mit der Untätigkeit des Konstanzer Bischofs und der Dringlichkeit angesichts der andauernden Konflikte in Zürich»[11]. Die Disputation sollte innerhalb der noch vorauszusetzenden kirchlichen Gemeinschaft vor Ort Blockaden überwinden und Probleme bearbeiten. Darum war es fatal, dass sich die bischöfliche Kirchenleitung aus formalen Gründen nicht in die Auseinandersetzung eintreten und sich auf eine Beobachterrolle zurückziehen wollte[12].

Vergleichspunkte zum aktuellen synodalen Prozess der römisch-katholischen Kirche sind unschwer zu erkennen. Auch heute meldet sich im römisch-katholischen synodalen Prozess Uneinigkeit darüber, welche Formen der Beratung überhaupt geeignet sind und wie weit die Entscheidungsstrukturen im umfassenden Sinn synodal zu gestalten wären. Erneut sind die in Struktur und Lehre bestehenden Vorgaben für die Prozesse der Beratung und Auseinandersetzung selbst umstritten. Verwunderlich ist dies nicht. Da sich der synodale Prozess in der römisch-katholischen Kirche heute selbstreflexiv auf die Synodalität richtet, ist unausweichlich, dass das Vorgehen selbst zur Diskussion steht, so wie im 16. Jahrhundert nicht nur inhaltliche Punkte umstritten waren, sondern das Vorgehen, die massgeblichen Akteure sowie die Kriterien von Beratung und Entscheidungsfindung. Es lässt sich nicht vermeiden, dass die faktischen Dissense über die Strukturen der Synodalität sich schon auf dem Weg melden. Das bloße Festhalten an den geltenden Strukturen dürfte in einer solchen Situation nicht zielführend sein. Untätigkeit und mangelnde Spielräume für unterschiedliche synodale Vorgehensweisen in den Ortskirchen vermehren das Konfliktpotential.

Pointiert gefasst bedeutet dies: Nur wenn im «syn» das «dis» zugelassen wird, sind Transformationen möglich. Diese These nun betrifft auch die Stilfragen.

Synodaler Stil als akademische Disputation
Der Begriff der Disputation, 1523 zunächst keineswegs selbstverständlich angewandt, eröffnet noch eine weitere Perspektive. Die schweizerischen Disputationen des 16. Jahrhunderts lebten von Thesen, wie sie 1523 in Zürich durch Zwingli oder 1526 in Ilanz durch Johannes Comander vorgelegt wurden. Wiederum könnte ein kritischer Einwand lauten, dass die Thesen nicht geeignet waren, eine Verständigung herbeizuführen. In seiner Studie zur schweizerischen Disputationskultur weist Jan Andrea Bernhard auf Deutungen hin, denenzufolge die Thesen nicht auf Verständigung ausgerichtet gewesen seien. «Bei den Gesprächen über sogenannte Thesen oder ‹Schlussreden› handelte es sich nicht im eigentlichen Sinne um einen Meinungsaustausch mit der Absicht ernsthafter Wahrheitsfindung – vielmehr waren es Schauveranstaltungen»[13]. Waren die zu disputierenden Thesen nicht primär «eine Art von Propagandaschrift», die der Popularisierung des evangelischen Bekenntnisses dienen sollte[14]? Gegenüber diesem Verdacht schätzt Bernhard selbst die Thesen anders ein. Sie seien

«in ihrer Grundabsicht nicht zu Propagandazwecken verfasst, sondern belegen einzig die theologische Haltung der Verfasser resp. der ‹Angegriffenen›. […] Die Funktion der Thesen ist […] eindeutig, dass sie auf der Grundlage der und in Orientierung an der Schrift über die Theologie der Reformgesinnten Rechenschaft ablegen sollen. Insofern sind sie frühe Bekenntnistexte der verschiedenen Reformatoren»[15].

Es muss hier nicht verhandelt werden, wie schroff oder wie verständigungsbereit die Thesen bzw. die dahinterstehenden Absichten tatsächlich waren. Es sind Positionierungen, und um deren Funktion besser zu verstehen, lohnt es sich, die Disputationen in den schweizerischen Anfängen der Reformation bei aller Unterschiedlichkeit[16] doch auch in den Horizont der scholastischen Disputationskultur zu stellen. Entgegen manchen Klischees war das Mittelalter pluraler und streitlustiger als die neuzeitliche römisch-katholische Kirche. Die akademische Disputationskultur diente dazu, sich in den Kontroversen gegenläufiger Positionen zu orientieren und mit Argumentationen vertraut zu sein – sowohl in den Argumenten der schlussendlich selbst vertretenen Auffassung als auch in jenen der konträren Meinung. Die Disputationskunst einzuüben und zu beherrschen dürfte in der akademischen Welt eine Sache sowohl der Pflicht wie auch der Lust gewesen sein. Die Disputationen wurden durch ein detailliertes Regelwerk bestimmt. Anselm Schubert identifiziert sie als eine strikt formalisierte Weise der Wahrheitsfindung. Die Disputanten präsentierten in einem komplexen Verfahren eine Vielzahl von Argumentationen in einer geordneten, wenngleich nicht einfach überschaubaren Form und Reihenfolge[17]. Was einerseits ein «gelehrtes Spiel», eine Art «Turnier»[18] war, konnte auch der echten Überprüfung von Positionen dienen. Wie Volker Leppin gezeigt hat, entwickelte Johannes Eck am Vorabend der Reformation (und von Andreas Rudolff Bodenstein [Karlstadt] und Martin Luther sogleich aufgenommen) eine weitere Zuspitzung der kontroversen Anlage der Disputation, indem er in seinen Thesen benannte, gegen welche Position diese sich richteten[19]. Das «dis» der Disputation, der Auseinander-Setzung, wurde also keineswegs gescheut, sondern als Medium der Wahrheitsfindung eingesetzt. Die Schweizerischen Disputationen sind keine akademischen Disputationen, doch nehmen die Akteure deren Eigenart auf, zur Konturierung der Auseinandersetzung Positionen angeschärft zu vertreten.

In der aktuellen Phase des synodalen Prozesses der römisch-katholischen Kirche ist es durchaus heilsam, sich diese kultivierte Praxis der disputativen Auseinandersetzung nahekommen zu lassen. Synodalität kommt in ihrem Stil ohne das «dis» von Disputation und auch Dissens nicht aus. Nur wenn unterschiedliche Positionen, «sic et non», beachtet werden, ist Erkenntnisfortschritt zu gewinnen. Das Zutagetreten unterschiedlicher Auffassungen und Perspektiven holt marginalisierte Überzeugungen, Weiterentwicklungen oder Modifikationen der bisherigen kirchlichen Lehre in einen offiziell kirchlichen Vollzug hinein und macht so eine vorher nur verdeckte kontroverse Diskussion möglich. Zudem fordert die akademische Disputationskultur dazu heraus, die Positionen in möglichst umfassenden Argumentationsreihen zu begründen. Dazu wäre die theologische Forschung stärker einzubeziehen, als es im bisherigen synodalen Prozess erkennbar ist. Die breite Palette von Stimmen des Volkes Gottes ist nicht durch «Eliten», in diesem Fall Bildungseliten, zu verdrängen. Wohl aber bedarf es einer auch theoretisch gespeisten Reflexionsebene, um die Auseinandersetzungen aus der blossen Aufführung von aneinandergereihten Positionen herauszunehmen und an der sachlichen Ebene zu orientieren.

Synodaler Stil in Kompromiss und heilsamer Kontroverse
Damit kommt zugleich in den Blick, wie das «dis» an ein «syn» zurückgebunden bleiben kann. Die scholastische Disputationskultur realisiert im Ideal, was in den Disputationen der Reformationszeit vermutlich in der Tat zu kurz kam: die Bereitschaft, disputativ nicht nur die eigenen, sondern auch gegenläufige Positionen zu vertreten und sogar argumentativ stark zu machen. Zudem bringt die scholastische Kunst der Differenzierung zutage, dass manche scheinbar konträren Standpunkte (auch) auf verschiedene Hinsichten derselben Sache weisen. Damit wird ein sachlicher Weg zu Kompromissen frei. Kompromisse sind zwar manchmal faul, häufig aber heilsam integrativ. Sie ermöglichen ggf. mindestens «dilatorisch» ein Weitergehen und bahnen künftige Entwicklungen an[20]. Ein ergebnisoffenes Eintreten in den Prozess ist insofern gefordert, als niemand allein bestimmen kann, in welche Richtung eine Gemeinschaft sich bewegen wird. Schließlich sollten alle Akteure prinzipiell gerade jene Haltung mitbringen, die oft als reformiertes Charakteristikum gilt: die Bereitschaft, sich besserer Einsicht zu öffnen. Synodalität würde also verlangen, Argumente nicht nur für die eigene und gegen die andere Position zu suchen, sondern in einem komplexen Prozess pro und contra für alle Positionen durchzuspielen, ohne «Gegnerschaften» aufzubauen.

Allerdings – und dies kommt in manchen Ausführungen zum Stil des synodalen Prozesses zu kurz – ist den Teilnehmenden an einem synodalen Prozess zuzubilligen, dass sie einen Meinungsbildungsprozess oft schon hinter sich haben. So war es bei den reformatorischen Kräften im Kontext der Disputationen des 16. Jahrhunderts, so ist es heute. Beim synodalen Geschehen treten Menschen zusammen, die sich mit virulenten Themen häufig bereits beschäftigt haben. In Auseinandersetzung mit anderen Positionen haben sie sich verantwortet eine Meinung gebildet. Dies gilt insbesondere für jene Positionierungen, die einzelne Menschen oder Gruppierungen allererst für sich selbst erringen mussten, weil sie nicht der gegebenen offiziellen Lehre entsprechen. Ein solcher Meinungsbildungsprozess lässt sich bei aller Offenheit für neue Gesprächskonstellationen nicht beliebig wiederholen.

Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Wenn Menschen sich für Anliegen reflektiert engagieren, ist ein «dis» unvermeidlich. Es entsteht Konfliktpotential, wie es Michel de Certeau in seinen klugen «Regeln des Konflikts» beschreibt. Er betont das Recht und die Pflicht, für die eigene anvertraute Perspektive einzustehen. Selbst wenn zu beachten ist, dass andere möglicherweise mit demselben Recht andere Perspektiven vertreten, muss jede und jeder für die eigene Perspektive und Aufgabe einstehen. «Wenn es dabei zu einem Konflikt kommt, muss er antreten und das verteidigen, wozu seine Funktion ihn im Gewissen verpflichtet, es zu fordern»[21].

Der Blick auf die Disputationen in der Reformationszeit und darüber hinaus auf die scholastischen Disputationen könnte zu einer freimütigen Kultur der Diskussion, der Disputation und auch des Dissenses in den synodalen (Lern-)Prozessen der römisch-katholischen Kirche beitragen.

Eva-Maria Faber


[1] Alle offiziellen Dokumente des Synodalen Prozesses finden sich auf der Internetseite https://www.synod.va/en/resources/official-documents.html (26.6.2023; zu diesem Zeitpunkt fehlte noch das jüngste Instrumentum laboris vom Juni 2023 für die Synode im Herbst 2023, das unter https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2023/06/20/0456/01015.html zu finden ist). Die folgenden Nummern bzw. Abschnittbezeichnungen im Haupttext beziehen sich auf dieses Dokument.

[2] Vgl. Papst Johannes Paul II.: Enzyklika Ut unum sint (1995), Nr. 14: https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25051995_ut-unum-sint.html (26.6.2023).

[3] Eva-Maria Faber: Vokabular des Überschwangs und der Abgrenzung. Eine Studie zur ekklesiologischen Terminologie der Fülle in «Unitatis redintegratio». In: Cath (M) 68 (2014) 104–125.

[4] Vgl. Peter Opitz: «Die sach bedarf nit menschlicher richter». Zwinglis Disputationen von 1523 und die Anfänge einer «nach Gottes Wort reformierten» Kirche. In: Mariano Delgado (Hrsg.); Gregor Emmenegger (Hrsg.); Volker Leppin (Hrsg.). Apologie, Polemik, Dialog. Religionsgespräche in der Christentumsgeschichte und in der Religionsgeschichte. Basel: Schwabe; Stuttgart: Kohlhammer, 2021, 289–306, 290.

[5] Fritz Büsser: Wurzeln der Reformation in Zürich. Zum 500. Geburtstag des Reformators Huldrych Zwingli. Leiden: Brill, 1985 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 31), 232f; vgl. 217–230 sowie 231–235.

[6] Opitz, Sach 289.

[7] Vgl. Opitz, Sach 290.

[8] Bernd Moeller: Zwinglis Disputationen. Studien zur Kirchengründung in den Städten der frühen Reformation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 22011, 19, spitzt dies so zu: «Die Regeln aber waren ihnen [den Konstanzer Gesandten] diktiert: Sie hatten allein aus der Hl. Schrift zu argumentieren».

[9] Moeller, Disputationen 16.

[10] Moeller, Disputationen 18.

[11] Opitz, Sach 291.

[12] Vgl. Opitz, Sach 293, der auch zeigt, dass der Konstanzer Generalvikar Johannes Faber schlussendlich nicht darum herumkam, sich an der Disputation mit Voten zu beteiligen.

[13] Jan Andrea Bernhard: Funktion, Theologie und Wirkung von Zwinglis 67 Thesen in der Eidgenossenschaft. Ein Beitrag zur schweizerischen Disputationskultur in Zürich (1523), Ilanz (1526) und Bern (1528). In: Ariane Anna Albisser (Hrsg.); Peter Opitz (Hrsg.): Die Zürcher Reformation in Europa. Beiträge der Tagung des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte 6.-8. Februar 2019 in Zürich. Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 293–315, 298 mit Bezug auf Matthias Pohlig: Entscheiden dürfen, können, müssen. Die Reformation als Experimentierfeld religiösen Entscheidens. In: Wolfram Drews (Hrsg.); Ulrich Pfister (Hrsg.); Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Baden-Baden: Ergon, 2018 (Religion und Politik 17), 201–225, 217.

[14] Bernhard, Funktion 297; vgl. 294.

[15] Bernhard, Funktion 302f.

[16] Bernhard, Funktion 293f, betont die Unterschiede der schweizerischen und oberdeutschen Disputationen von jenen der lutherischen Reformation, die ihrerseits der scholastischen Disputationskultur näherstehen.

[17] Anselm Schubert: Libertas Disputandi. Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch. In: ZThK 105 (2008) 411–442. Wenn Leppin, Zuspitzung 43, die Disputationen mit Bezug auf Schubert als «geradezu ideale Form zur Reduktion von Komplexität» beschreibt, so ist hier im Sinne der Analysen Schuberts wohl weniger von Reduktion denn von Formalisierung zu sprechen.

[18] Volker Leppin: Zuspitzung und Wahrheitsanspruch: Disputationen in den Anfängen der Wittenberger reformatorischen Bewegung. In: Herman J. Selderhuis (Hrsg.); Ernst-Joachim Waschke (Hrsg.): Reformation und Rationalität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015 (Refo500 Academic Studies 17), 43–57, 43, mit Hinweis auf William Courtenay für den Vergleich mit dem Turnierwesen.

[19] Vgl. Leppin, Zuspitzung 49f.

[20] Max Seckler würdigt «dilatorische Kompromissformeln, bei denen keine durch Nachgeben und Zusammenwirken gewonnene Entscheidung in der Sache getroffen, sondern die für den Augenblick als unmöglich erachtete Entscheidung umgangen oder hinausgeschoben wird. […] Es gehört zur Gesetzes-, Vertrags- und Konzilssprache, eine gewisse Mehrdeutigkeit des Ausdrucks zu praktizieren, einmal mit Rücksicht auf den Konsens der Parteien, zum andern, um für künftige Entwicklungen Offenheit zu wahren»: Max Seckler: Über den Kompromiss in Sachen der Lehre. In: ders. (Hrsg.); Heinrich Fries (FS): Begegnung. Beiträge zu einer Hermeneutik des theologischen Gesprächs. Graz: Styria, 1972, 45–57, 55.

[21] Michel de Certeau: Der Fremde oder Einheit in Verschiedenheit, Stuttgart: Kohlhammer, 2018, 53.


Eva-Maria Faber ist Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur und Rektorin der Hochschule.

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